Von poietischen Prozessen und poetischen Maschinen
Will man verstehen, wie sich Kunst und Technik in unserer europäischen Tradition zueinander verhalten, muss man weit ausgreifen. Wir sind es heute gewohnt, Intuition und Ratio als Gegensätze zu sehen. Der gemeinsame Ursprung der Poetik (poietike – der schaffenden, dichtenden Kunst) und der Technik (techne) in der griechischen Poiesis ist dagegen weithin in Vergessenheit geraten. Wer dem Wesen der Werke sowie der Vorgehensweise von Ralf Baecker auf die Spur kommen oder generell die aktuellen Herausforderungen unserer technischen Zivilisation verstehen will, muss aber unvermeidlich zu den Wurzeln unseres wissenschaftlichen Denkens zurück gehen. Zwar geht es bei Ralf Baecker durchaus – wie verschiedentlich zu lesen – auch um eine Materialkultur des Rechnens, darum dem Digitalen einen Körper zu geben. Er untersucht die Strukturen digitaler Prozesse, indem er sie in unterschiedliche Materialien übersetzt und so ihr ästhetisches Potential auslotet. Aber reicht das, um den Kern seines Ansatzes zu fassen?
In der griechischen Philosophie und ihrer Gliederung der Wissenschaften werden noch drei Grundformen menschlicher Vernunft mit ihren Wechselbeziehungen herausgestellt – Theorie, Praxis und Poiesis. Stark verkürzt können wir sagen: Die theoretische Vernunft reflektiert und analysiert das Vorhandene. Die praktische Vernunft erstellt die Regeln unseres (politischen, moralischen, etc.) Verhaltens und die poietische Vernunft ist das Vermögen, Neues hervorzubringen. Poiesis ist also jenes menschliche Tun, das Dinge hervorbringt, die, sobald sie hervorgebracht sind, für sich selbst bestehen und wirksam werden. Heute herrscht die Meinung vor, dass sich die Möglichkeiten und das Wirken menschlicher Vernunft alleine in den Bereichen von Theorie und Praxis erschöpfen. Ein unvollständiger und einseitiger Teilbereich einer Theorie der Poiesis wurde lediglich unter dem Namen Ästhetik für die Kunst ausgearbeitet. Nicht umfassend und stark genug, um die Einheit der menschlichen Vernunft in ihren drei historischen Perspektiven zusammenzuhalten. Der Philosoph Georg Picht(1) macht diese Tatsache, dass eine umfassende Theorie der Poiesis nie ausgeführt wurde dafür verantwortlich, dass die europäische Kultur die Technik geistig nie bewältigen konnte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben wir ernsthaft damit begonnen, darüber nachzudenken, in welchen Strukturen wir uns bewegen, wenn wir gleichzeitig mit unserer Kultur auch die eigenen Lebensbedingungen hervorbringen und vor allem technisch über unsere eigene Zukunft und die des Planeten verfügen.
Das ist unsere Ausgangsposition. Die von Picht formulierte Erkenntnis, dass die poietische Vernunft, also das „Machen“ das ursprünglichste Vermögen des Menschen ist und der Horizont unserer Welt in der wir leben nicht immer schon gegeben ist, sondern selbst den Charakter eines Entwurfes hat. Dessen Strukturen und Möglichkeiten gilt es zu untersuchen und zu erkennen. Das poietische Vermögen bestimmt also den Horizont unserer Welt, deshalb reicht die Verkürzung auf eine instrumentelle, technik-rationale Vernunft, die nur noch die Effizienz der Mittel reflektiert und dabei ökonomische Zwecke verfolgt, nicht aus, um Technik kulturell zu bewältigen. In diesem weitaus größeren Rahmen poietischer Untersuchungen und nicht dem digitaler Technologien und ihrer unsichtbaren Methoden sind die Arbeiten von Ralf Baecker zu betrachten.
Ralf Baecker untersucht poietische Prozesse auf grundlegende Weise. Er betreibt nicht Kunst als Wissenschaft, sondern vielmehr künstlerische Grundlagenforschung die Poiesis in seiner ursprünglichen und weit gefassten Bedeutung als Grundform menschlichen Denkens und technischen Handelns untersucht. Die heute etablierte künstliche Trennung in zweckrationale Technik und ästhetische Praxis wird dabei schon im Ansatz ignoriert. Es geht also gar nicht um die Sichtbarmachung von verborgenen Prozessen der Informationsverarbeitung. Beispielsweise lässt uns der Rechnende Raum keineswegs besser verstehen, wie Zelluläre Automaten funktionieren. Man kann digitalen Prinzipien auch gar nicht hinterher visualisieren, um sie kulturell einzuholen. Was weitaus dringender gebraucht wird sind eigenständige Untersuchungen technisch erzeugter Realitäten und des Zusammenspiels zwischen poietischem Denken und materiellen Machen wie Ralf Baecker sie durchführt. Technik wird in diesem Zusammenhang von vorne herein als Kultur und ästhetischer Prozess aufgefasst. Gleichzeitig ist poietisches Denken selbst immer schon prozess- und maschinenhaft. Im Denken müssen die realen Abläufe gedanklich bereits bis zu einem gewissen Grad vorweggenommen werden. Aber erst durch die Arbeit am Material, durch den Versuch der Realisierung zeigen sich die Widerstände und es gilt die Vorstellungen in einem zirkulären Prozess immer wieder zu korrigieren und anzupassen. Durch Bewährung in der Praxis schälen sich so nach und nach planmäßige, systematische Verfahren heraus, die schließlich als Methoden eine eigene sprachliche und semiotische Existenz erfahren. Letztlich geht es also um das grundsätzliche menschliche Vermögen, vor dem inneren Auge Bilder und Schemata zu entwerfen, die sich materiell umsetzen lassen. So betrachtet handelt es sich bei den Arbeiten von Ralf Baecker unweigerlich immer auch um Erkenntnisprozesse. Die gebauten Apparate und Maschinen sind auch Erkenntnisapparate, die Prozesse und Wirkungszusammenhänge begreifbar und erfahrbar machen. Denken, materielle Praxis und semiotische Methodik sind in diesem Experimentalsetting untrennbar ineinander verschränkt. Der Raum der Prozesse und Maschinen wird auf Basis dieses Dreiklangs immer neu mit verschiedenen Materialien, physikalischen Prinzipien und Methoden, die gedanklich, sprachlich und semiotisch fixiert werden, kartiert.
Im Kern geht es in Ralf Baeckers Arbeiten um die Erprobung alternativer technischer Wirklichkeiten und um das Durchspielen der Reibungen zwischen der Idealität unserer Methoden und Konzepte und der Materialität des Machens. In Anlehnung an die Tradition der Experimentalkulturen untersucht er, wie sich unsere Theorien, Vorstellungen und Wahrnehmungen zu den Objekten verhalten, die wir bauen. Er fragt, in welches Wechselspiel wir sie bringen können, wenn wir uns nicht vom üblichen Effizienz- und Zweckdenken der Technik treiben lassen? Im Zentrum steht eine experimentelle Praxis die allerdings anders als in naturwissenschaftlichem Kontexten nicht die Verifizierung oder Falsifizierung objektiver Wahrheiten zum Ziel hat, sondern die Erprobung neuer, technisch hergestellter Erfahrungsräume. Seine Installationen und Skulpturen sind immer auch Werkzeuge der Imagination, die nicht ausschließlich als fertiges Artefakt betrachtet werden sollten, sondern ebenso als Zwischenzustände ästhetischer und ganz allgemein poietischer Erkenntnisprozesse. Eine wesentliche Herausforderung besteht bei den Arbeiten Baeckers unter anderem darin, ästhetische Phänomene auch in Abwesenheit von wissenschaftlichem Kausalwissen technisch zu stabilisieren. Es geht also um Apparaturen und Maschinen, die weder Arbeit leisten noch Informationen prozessieren sollen. Auch kein wissenschaftliches oder technisches Wissen soll generiert werden. Im Mittelpunkt stehen ästhetische Prozesse, die in technischen Settings stabilisiert werden. Gleichzeitig deutet sich seinen Arbeiten zunehmend eine Entwicklung hin zu eigenständigen Fragen und einer Ablösung von digitalen Vorbildern an. Ging es in älteren Arbeiten noch um Übersetzungen abstrakter Informationsprozesse, um ästhetische Experimente und Affekte mithilfe von Transformationen in andere Materialien – wobei anfangs noch die gängige Trennung zwischen Rechenprozess und Display aufrechterhalten wurde, die in späteren Arbeiten aufgelöst wird – so treten inzwischen zunehmend vorbildlosere und vielleicht grundsätzlichere Fragen poietischer Strukturen ins Zentrum.